Goethe ist schon wieder verliebt – und diesmal könnte man die Geschichte mit leicht entrüstetem Unterton abhandeln – wie konnten die Beteiligten, allen voran Johann Wolfgang, sich nur auf eine so fragwürdige Geschichte einlassen, wo doch von vorneherein… aber lassen wir das.
Es geht natürlich um Charlotte Buff, und ganz unvoreingenommen betrachtet muss man sagen, dass die Affäre im Großen und Ganzen doch eher von gegenseitigem Respekt, unerschütterlicher Freundschaft und erstaunlicher Nachsicht geprägt war. Natürlich auch von Leidenschaft und Trennungsschmerz, und Goethe ist auch wieder völlig von der Rolle, aber der Reihe nach.
Herr Goethe kommt nach Wetzlar, Herr Kästner ist irritiert
Johann Christan Kestner ist Kammergerichtssekretär am Reichskammergericht in Wetzlar. Er führt ein besonnenes, ruhiges Leben, etwas anderes ist im Umfeld dieser behäbigen Institution, wo sich Prozesse über Generationen hinziehen, auch nicht vorstellbar. Aber er hat Pläne, er ist heimlich mit eben jener Charlotte Buff verlobt und sobald er die gut dotierte und sicherlich schnarchlangweilige Stelle eines Archivsekretärs in Hannover bekommen hat, von der schon lange träumt, wird er die Verlobte heiraten. Er hat jedoch nicht mit dem Erscheinen eines Herrn aus Frankfurt gerechnet, der im Mai 1772 in Wetzlar eintrifft:
Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Hantirung nach Dr. juris, 23 Jahr alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters,
schreibt Kestner, und fügt auch noch gleich eine Charakterisierung des Gastes an:
Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie und ein Mensch von Charakter, besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. […]
Er ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel, von Vorurtheilen so viel frei handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.
Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Äußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen andern ist er doch wohl angeschrieben. Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung.
Charlotte schneidet Brot, Goethe verliebt sich
Ein interessanter Mensch also, der von seinem Vater nach Wetzlar geschickt wurde, um hier ein Praktikum am Gericht zu absolvieren, der aber ganz andere Pläne hat. Unter anderem will er sich amüsieren. Kestner ist zunächst ein wenig zurückhaltend, vielleicht wegen des bizarren Betragens, von dem er uns leider keine Details mitteilt, aber freundet sich dann doch mit dem charaktervollen Genie aus Frankfurt an.
Bereits im Juni muss er jedoch feststellen, dass Goethes „Hochachtung für das weibliche Geschlecht“ sich insbesondere auch auf seine, Kestners, Verlobte bezieht, und er diese bereits heftig umwirbt. Johann Wolfgang und Charlotte haben sich bei einem Ball in Volpertshausen kennengelernt und den ganzen Abend miteinander getanzt. Am nächsten Tag hat der angebliche Dr. juris mit angesehen, wie sie in der Diele des väterlichen Hauses, umgeben von der Schar ihrer zehn jüngeren Geschwister, Brot schnitt, und gar nicht anders gekonnt, als sich umgehend zu verlieben.
Eine reizende Szene. Eine unschöne Situation. Die sich aber sicher lösen lässt, indem man Johann Wolfgang, den Freund, darüber informiert, dass (und wem!) die fragliche Dame bereits versprochen ist. Denkt sich jedenfalls Kestner. Goethe aber ist verliebt, und wenn Goethe verliebt ist, tut er eben was „ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt“, wie Kestner ganz richtig bemerkt hat. Kurz gesagt, er trifft sich weiter mit Charlotte.
Die Situation hat sicher einiges Potential für großes Drama, Eifersuchtsszenen, aufgekündigte Freundschaften und mit Aplomb zerschlagenes Porzellan – aber nichts dergleichen geschieht. Wenn Kestner mehr als nur irritiert sein sollte, lässt er sich davon nichts anmerken:
Er liebt sie und ob gleich er ein Philosoph und mir gut ist, sieht er mich doch nicht gerne kommen, um mit meinem Mädchen vergnügt zu sein. Und ich, ob ich ihm gleich recht gut bin, sehe ich doch auch nicht gern, daß er bei meinem Mädchen allein bleiben und sie unterhalten soll.
Trotz der Irritation verleben die drei einen mehr oder weniger harmonischen Sommer. Man macht gemeinsame Ausflüge, führt lange Gespräche, jeder mag jeden und die beiden Herren können sich darauf verständigen, eben den gleichen Geschmack zu haben. Man fühlt sich fast in eine bittersüße Dreiecksgeschichte des Jahres 1972 versetzt, aber dann hätte es mehr Sex gegeben.
Davon kann 1772 nicht die Rede sein.
Goethe reist ab und schreibt ein Buch
Im August beichtet Charlotte, sie habe Goethe einen Kuss gegeben, vielleicht auch er ihr, ganz klar ist das nicht, und nun wundert man sich wirklich über die Kestners Langmut, denn nach einer kleinen „Brouillerie“ am Abend ist am nächsten Tag alles wieder gut. Allmählich wünscht sich der Zuschauer, dass Charlotte diesen traurigen Trottel zum Teufel schickt und mit Goethe so glücklich wird, wie es mit ihm eben möglich ist. Aber dann kommt doch noch der Augenblick der Wahrheit: Am 10. September teilt Charlotte Goethe mit, dass der eine Kuss alles sei, was er erwarten könne. Man führt noch ein abendliches Gespräch zu dritt über das Leben und den Tod, und am nächsten Tag reist Goethe ab.
Er ist fort Kestner wenn Sie diesen Zettel kriegen, er ist fort.
Das ist alles, was er Kestner schreibt – an Lotte schreibt er natürlich ein bisschen mehr, aber die Aussage ist die gleiche, er ist fort.
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein, aber der nach Frankfurt zurückgekehrte Goethe windet sich im Liebesschmerz, er kann nicht aufhören an Kestner und Charlotte zu schreiben, auch nach deren Hochzeit nicht. Man kann auch vermuten, dass ihm das Schicksal des Wetzlarer Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem im Kopf herumgeht, der sich kurz zuvor in ähnlich trübsinniger Lage erschossen hatte. Die tragische Situation verlangt ja geradezu nach dramatischer Selbstentleibung eines Beteiligten – aber glücklicherweise kann Goethe den Selbstmord ins Literarische verlegen:
1774, nachdem ihn auch noch Maximiliane von La Roche hat sitzen lassen, beginnt er mit der Arbeit an Die Leiden des jungen Werther. Nach vier Wochen ist das Buch fertig, und Kestner hat nun doch noch eine Gelegenheit, sich aufzuregen, denn das Werk ist hart an der Realität: Das Vorbild für den Werther ist nach dessen eigener Auskunft Goethe selbst, auch wenn Goethe nicht nur den liebeskranken Rettungsschuss, sondern auch die Werther-typische Kleidung, gelbe Lederhosen und blauen Gehrock, von Karl Wilhelm Jerusalem abgeschaut hat. Lotte ist unverkennbar Charlotte, abgesehen von den dunklen Augen, die Maximiliane von La Roche beigesteuert hat. Und als wäre das nicht schon unverschämt genug – der dröge, biedersinnige Albert, dem in seiner phantasielosen Beschränktheit nichts anderes einfällt als Werthers Glück mit Lotte im Weg zu stehen, der ist natürlich kein anderer als Kestner.
Nun ist der brave Kammergerichtssekretär, endlich!, außer sich, sieht sich als Spießer dargestellt („Und dieses elende Geschöpf von einem Albert!“) und protestiert heftig. Natürlich vergeblich. „Werther muss – muss seyn!“, antwortet Goethe, versichert beide wiederum seiner unerschütterlichen Zuneigung („O Zauberkraft der Lieb und Freundschafft.“) und ist sich sicher, dass Kestner und Charlotte mit der unerwarteten Popularität schon umgehen könnten.
Kestner gibt nach, verzeiht und wünscht sich, er wäre diesem Dr. Goethe aus Frankfurt nie begegnet.
Aber ganz sicher ist er sich da nicht.
