Herr Goethe flieht aus Frankfurt

Goethe und Frankfurt ist ein heikles Thema, vor allem für den Frankfurter. Natürlich ist der Dichterfürst der berühmteste Sohn der selbsternannten Metropole am Main, das mag keiner bezweifeln – aber hätte er nicht in Frankfurt bleiben und dort berühmt werden können? Anstatt nach Weimar zu gehen – ausgerechnet nach Weimar, dem feuchten Nest an der Ilm! – und dann auch noch zeitlebens zu bleiben und dort sogar zu versterben. Wenigstens hätte er seine Heimatstadt am Main ab und an besuchen können (und seine Mutter nebenbei bemerkt auch), damit dort zumindest ein wenig vom Glanz des Genies hängenbliebe, und sei es nur um den Fremdenverkehr zu befördern. Da sind die Frankfurter*innen dann bei allem permanenten Nörgeln und Jammern über die heimischen Zu- und Missstände dann doch – und immer noch – beleidigt über das Ausmaß an Ignoranz und Undank seitens des berühmten Sohnes.

Mittlerweile hat Frankfurt sich offenbar mit Goethes Weggang abgefunden: Es gibt das Haus, die Straße, den Platz, die Schule, das Schiff, die Universität, in entsprechenden lokalen Fachhandlungen auch Brot, Wein und Wurst, allesamt nach Goethe benannt. Kaffeetassen, Fußabtreter und allerlei anderer Plunder werden mit Goethes Konterfei bedruckt und dann zum Vielfachen des tatsächlichen Wertes verkauft. Verdiente Mitbürger*innen bekommen zudem entweder die Goethe-Plakette oder den Goethe-Preis, wobei erstere lediglich mit Ehre und ein wenig Bronze, letzterer immerhin mit 50.000 Euro dotiert ist. Und doch, bei allem Stolz bleibt die nagende, plagende, quälende Frage, warum der Meister seinerzeit fast fluchtartig die Stadt verlassen hat.

Andererseits: Wie er hätte bleiben können? Angesichts der ausweglosen Lage, in der sich Goethe im Herbst des Jahres 1775 befand, ist das vielleicht die bessere Frage.

Der 26jährige Johann Wolfgang wohnt nun seit vier Jahren wieder bei seinen Eltern im Großen Hirschgraben. Nachdem er Studium, Promotion und ein Praktikum am Reichskammergericht abgeschlossen hat (und die dazugehörigen Liebesbeziehungen ebenfalls), gibt es keinen Grund mehr, warum er nun nicht einer standesgemäßen Beschäftigung nachgehen sollte.

Mal abgesehen davon, dass er nicht mag.

Er arbeitet als Anwalt, aber ohne jede Begeisterung – der Autor des Götz von Berlichingen und des Werther, mittlerweile auch von Clavigo und Stella, (nicht zu vergessen Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern) sieht sich im Rahmen dieser Tätigkeit zu folgender Prosa gezwungen:

In unsrer Sache gegen den Hrn. Amtmann Luther, ist auf dessen Exzeptions Schrifft decretirt worden dentur acta ad referendum. Weilen nun aber wenn hier sollte gesprochen werden Hr. Horn wahrscheinlich noch einmal verlieren dürfte so bin ich um einen 14 Tägigen Termin, et pro venia replicandi eingekommen da ich denn wie neulich schon gemeldt zugleich um Transmissionem actorum in vim concipiendae sententiae bitten werde.

Das ist weder gut noch schön, und da es ein Anwaltsschreiben ist, ist es vermutlich noch nicht einmal wahr. Das Problem ist, dass er zwar als Bestsellerautor gilt – spätestens seit dem Verbot des Werther durch die Leipziger Zensur will jeder das Buch lesen –, sich dieser Kultstatus für ihn aber finanziell nicht auszahlt.  Eine Auflage gilt damals als hoch, wenn mehr als tausend Bücher verkauft werden, und für Stella bekommt er gerade einmal 20 Taler. Bereits während seiner Studienzeit in Leipzig hat er 100 Taler im Monat ausgegeben, dank der großzügigen Zuwendung seines Vaters, und er ist weit davon entfernt, eine solche Summe mit Honoraren zu verdienen. Anderswo in Deutschland würde er sich vielleicht einen Fürsten suchen, der ihn unterhält – aber in Frankfurt ist man stolz darauf, auf Adelige verzichten zu können und sich sein Geld selbst zu verdienen. Also bleibt Goethe in der unglücklichen Situation, neben seinen spärlichen Anwaltshonoraren auf die väterliche Apanage angewiesen zu sein, um weiter schreiben zu können.

Die Situation wird auch nicht einfacher, als er im Januar 1775 bei einem Hauskonzert die siebzehnjährige Bankierstochter Lili Schönemann kennenlernt und sich – mal wieder – Hals über Kopf verliebt. Schon im April sind die beiden verlobt, jedenfalls inoffiziell. Diesmal scheint alles zu passen: Beide gelten als gute Partie, und die  Eltern erwägen sogar, über die unterschiedlichen Konfessionen hinwegzusehen (die Schönemanns sind calvinistisch, die Goethes lutherisch). Eine Traumhochzeit ist in Sicht: Alteingesessenes Patriziertum und Geldadel vereinigen sich, Anwalt und Starautor heiratet schöne Bankierstochter. Gäbe es schon eine Klatschpresse, die bevorstehende Goethe-Schönemann-Hochzeit würde die Titelseiten bestimmen.

Mal abgesehen davon, dass die beiden ein schönes Paar abgeben: Goethe scheint Lili nicht nur wirklich zu lieben, sondern auch eine Heirat ernsthaft in Betracht zu ziehen. Aber die Konsequenz ist auch klar – er würde sich endgültig den Konventionen fügen müssen, denn beide Familien haben eine eindeutige Erwartung: Goethe soll einer geregelten Beschäftigung nachgehen.

Dabei hat er Inspirationen, Ideen, Interessen, der Faust liegt noch in der Schublade, und wohin dann mit all seinen Plänen? Kann man sich Goethe als Frankfurter Anwalt und Familienvater vorstellen? Kann er das selbst? Und was wäre die Alternative? Alleine nach Italien? Mit Lili heimlich nach Amerika? Er sieht keine Lösung, es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma. An seinen Freund Merck schreibt er:

Ich bin wieder scheißig gestrandet …

Mittlerweile zweifelt er sogar an seinem Talent als Dichter:

Was ich treibe ist keinen Scheisdreck werth, geschweige einen Federstrich.

Ausdrücke aus der Fäkalsprache sind ihm in diesen Tagen offenbar häufig in den Sinn gekommen.

Im Mai nimmt er die Einladung der Stolberg-Brüder in die Schweiz an, er hofft auf Ablenkung und vielleicht, wer weiß, kommt eine Lösung des Problems ja dann von ganz allein. Am St. Gotthard-Pass überlegt er, ob er weiter nach Italien gehen soll, aber der Gedanke an Lili hält ihn zurück. Ende Juli ist er wieder in Frankfurt, und natürlich hat sich die Situation kein bisschen verändert. Also geht er seiner Verlobten aus dem Weg:

Gehe jetzt nach Offenbach, um Lili heute abend nicht in der Comödie, morgen nicht im Conzert zu sehen. […] Offenbach!

Wir hören den Seufzer, der in diesem letzten „Offenbach!“ mitschwingt und verstehen seinen Schmerz. Aber natürlich lässt sich eine Begegnung auf Dauer nicht vermeiden:

Lili heut nach Tisch gesehen – in der Comödie gesehen. Hab kein Wort mit ihr zu reden gehabt – auch nichts geredt! – Wär ich das los.

Wenn er nur wüsste, wie er das anstellen soll.

Es ist dann recht unerwartet Lilis Mutter, die die verfahrene Situation klärt. Ende September bittet sie Goethe zu einer größeren Gesellschaft, bei der sie ihm coram publico eröffnet, dass eine Heirat sich (nun doch!) wegen der Verschiedenheit der Konfessionen nicht schicke. Die öffentliche Zurückweisung kann Goethe nur als Unverschämtheit sehen – auch wenn man versteht, dass Frau Schönemann in einem solch delikaten Moment nicht mit dem für seine Diskussionslust bekannten Advokaten alleine sein wollte.

In Frankfurt kann er nun jedenfalls nicht bleiben, wo ihn doch hier alles, selbst Offenbach, an die nun unerreichbare Lili erinnert. Das trostlose Dasein als Anwalt, die noch trostlosere Abhängigkeit vom väterlichen Vermögen, auch das muss er hinter sich lassen. Er muss weg, raus, irgendwo hin …

Das ist Goethes Situation im September 1775 – „scheißig gestrandet“ trifft es recht gut. Im Oktober tut sich dann ein Ausweg auf: Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, der gerade in Karlsruhe Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt geheiratet hat, macht auf dem Weg zurück nach Weimar Station in Frankfurt und bietet Goethe an, einige Monate an seinem Hof zu verbringen. Ganz unverbindlich. Man würde sich freuen. Eine Kutsche könne ihn in wenigen Tagen abholen… Goethe schreibt an die Brüder Stolberg:

Mir ists wie mir’s seyn kann […] Wenn ich nach Weimar kann, so tu ichs wohl, Gewiss aber euch zu Liebe nicht. Und keinem Menschen zu Liebe, denn ich habe einen Pick auf die ganze Welt.

Dass Goethe Frankfurt im November 1775 schließlich verlässt, ja, verlassen muss, ist also durchaus verständlich, das müssen selbst die lokalpatriotischsten Frankfurter*innen einsehen.

Es bleibt allerdings die Frage, warum er in Weimar geblieben ist.